Vorgestellt: Welche Zukunft hat das Recht - und welches Recht braucht die Zukunft?
Herrscht im Netz die Macht oder das Recht? Wer schützt die Staaten vor Cyberangriffen? Und wie können wir algorithmische Entscheidungen fairer machen? Solche Fragen stehen im Fokus der Forschung von Matthias C. Kettemann. Als erster mit einer Lehrbefugnis für Internetrecht ausgestattet, untersucht der Professor für Innovation, Theorie und Philosophie des Rechts an der Uni Innsbruck, wie Künstliche Intelligenz besser reguliert und Menschenrechte auch im Internet geschützt werden können.
Matthias C. Kettemann ist seit September 2021 neuberufener Professor am Institut für Theorie und Zukunft des Rechts.
Er hat als “embedded researcher” in der Unternehmenszentrale von Facebook dazu geforscht, wie das Unternehmen Regeln für bald drei Milliarden Nutzer*innen setzt, untersucht in einem Projekt, wie Algorithmen fairer werden können, und berät die EU im Kampf gegen Desinformation: Prof. Matthias C. Kettemann, der zum 1.9.2021 die Professur für Innovation, Theorie und Philosophie des Rechts übernimmt, untersucht, wie das Recht Individuen wie Gesellschaft „fit“ für die digitale Zukunft macht und wie das Recht sich ändern muss, um zukünftigen Herausforderungen gerecht zu werden.
Der Weg in die Lehre war dem Steirer in die Wiege gelegt. Beide Eltern waren an der Universität Graz tätig. Und doch wäre er fast in der Werbung als Texter hängen geblieben. “Aus dieser Zeit stammt wohl meine Freude an lustigen Titeln für meine Artikel”, meinte der neue Professor. Nach Studien der Rechtswissenschaften in Graz, Genf und als Fulbright- und Boas-Stipendiat an der Harvard School promovierte er mit einer Arbeit zur Rechtsstellung des Individuums im Völkerrecht. 2014 ging er dann an die Universität Frankfurt, wo er im Rahmen des Exzellenzcluster „Die Herausbildung normativer Ordnungen“ der Goethe-Universität Frankfurt seine Habilitation über Rechtskonflikte im Internet schrieb. “Ich habe untersucht, wie staatliches Recht und Völkerrecht zusammenwirken und dabei zeigen können, dass vor allem eine dritte Kategorie von Recht: transnationale Regeln, wie Internet-Standards, entscheidenden Einfluss ausüben.”
Seit 2019 leitet er beim Leibniz-Institut für Medienforschung/Hans-Bredow-Institut in Hamburg ein Forschungsprogramm zu privater Regelbildung und das Private Ordering Observatory des Instituts. “Mich interessiert besonders das Zusammenspiel von Macht und Recht online: Darf Google entscheiden, was man findet und was “vergessen” wird? Darf Facebook bestimmen, was wir online sagen dürfen? Wie versuchen die Gerichte über ihre Urteil und die Staaten über ihre Gesetze Rechte zu sichern und Entscheidungshoheit zurückzuerobern?”
Ein Raum ohne Recht ist das Internet, so der Digitalrechtsexperte, natürlich nicht. Da sei ein Mythos. Generell räumt Prof. Kettemann gerne mit Mythen auf. In ihnen konzentrieren sich durchaus mächtige Gegenerzählungen zu den rationalen Erklärungsmodellen unserer Welt, die von jenen, die in unseren zunehmend komplexeren und schnelleren Gesellschaften kognitive überfordert sind, gerne aufgegriffen werden. Gute Forschung muss daher auch immer zielgruppenorientiert kommunizieren, meint Prof. Kettemann. Das zeigt er auf, wie auf internetmythen.de, wo sich 50 Autor*innen eines von ihm herausgegebenen Buchs, zu dem UNO-Generalsekretär António Guterres und der “Vater des Internets”, Vint Cerf, die Vorworte beigesteuert haben, die größten Internetmythen widerlegen.
Großen Spaß macht Professor Kettemann auch die Lehre. So vertrat er in den letzten Semestern Lehrstühle in Heidelberg und Jena und war Lektor in Graz, Frankfurt und Hamburg.
Mit Prof. Kettemann erfährt auch das Institut für Theorie und Zukunft des Rechts, angesiedelt in der Ursulinenpassage neben dem Digital Science Center, einen Wachstumsschub. Gemeinsam mit Ass.-Prof. Dr. Clara Rauchegger und dem auch neuberufenen Prof. Dr. Malte Kramme wird das zehnte und jüngste Institut der Rechtswissenschaftlichen Fakultät bis Anfang 2022 von drei auf 13 Mitarbeiter*innen wachsen. Prof. Kettemann sieht das Institut als “Vorfeldinstitut”: “Wir wollen die entscheidenden Rechtsfragen für die Zukunft identifizieren und für die Fachinstitute aufbereiten, aber auch eigenständig in Forschung, Lehre und Wissenstransfer responsive Governance-Modelle für technologische Herausforderungen entwickeln, die den Menschen in den Mittelpunkt rücken.”
Dass die Schwerpunkte des Instituts - Digitalisierung, Innovation, Nachhaltigkeit - gut zu den strategischen Zielen des Entwicklungsplans der Universität passen, hat auch Rektor Märk im Gespräch mit dem neuen Professor angemerkt.
Es sind besonders Fragen an den Schnittstellen von Recht und Technik, nationalen politischen Prioritäten und globalen Allgemeingütern: Warum funktioniert das Internet? Wem gehören die Unterwasserkabel? Wer beherrscht die Daten in der Cloud? Wie kann Europa seine digitale Souveränität im Wettbewerb mit China und US-Plattformen bewahren? Die Fragen werden Prof. Kettemann und seinem Innsbrucker Team nicht ausgehen und ihre Antworten machen ihn auch zu einem beliebten Ansprechpartner von On- und Offlinemedien im In- und Ausland. Ganz begeistert sind seine beiden Kinder aber nicht immer, wenn am Wochenende das Fernsehen wissen will, warum die Taliban Twitterkonten haben, Trump aber nicht und das versprochene Eis dann warten muss.
Der Grazer schreibt gerne und veröffentlicht viel. Inzwischen sind 4 Bücher und 18 Herausgeberschaften und mehr als 250 wissenschaftliche Publikationen erschienen. Bei Oxford University Press erschien zuletzt Open Access (“Freier Zugang zu Wissen für alle ist mir ein Herzensanliegen”) sein Buch zu Online-Macht. In vier Sprachen übersetzt ist auch Professor Kettemanns Einführung in die Meinungsäußerungsfreiheit im Internet. Für Winter und Frühjahr 2022 sind die nächsten drei Herausgeberschaften geplant: bei Routledge, Bloomsbury und Springer erscheinen von ihm mitherausgegebene Bücher zum Einfluss der Corona-Politik auf Europas Demokratien, zum Internetvölkerrecht und zum Recht der Digitalität.
Sehr wichtig ist es dem neuen Professor auch, seine Forschungsergebnisse rasch unter die Leute zu bringen. Er ist ein Fan von Blogbeiträgen und online veröffentlichten Kurzstudien. “So kann man schnell wichtige Forschungsfragen beantworten und agile Forschung betreiben - just do it sozusagen. Wir haben innerhalb von zwei Monaten mit einem europäischen Konsortium eine Studie zum ‘Deplatforming’ von Politiker*innen in 15 Staaten erarbeitet und veröffentlicht ebenso wie zu Reaktionen auf Corona-bezogene Desinformation.” Dabei setzt der Hobbyarchäologe (“besonders die keltischen und römischen Funde im Alpenraum finde ich toll”) auf thematische Vielfalt. Oft mit Nachwuchswissenschaftler*innen kooperierend veröffentlichte Prof. Kettemann zuletzt Beiträge zur Reform des europäischen Plattformenrechts und Digitalmarktes, zu Desinformation in Indien, den Medien im deutschen Wahlkampf, zu sich wandelnden Öffentlichkeiten, der plattformfesten Ausgestaltung der Demokratie, der Bedeutung von Normen im Internet, der Bedeutung von Fairness bei algorithmisch bestimmter Ausspielung von Werbungen, Cyber-Diplomatie und Cybersicherheitspolitiken der EU, Datenzugang für Forscher*innen und als Sachverständiger für den deutschen Bundestag zu Menschenrechte im Internet.
Der neue Professor ist in der Internetforschung gut vernetzt. Neben seiner Professur leitet er Forschungsgruppen am Alexander von Humboldt Institut für Internet und Gesellschaft in Berlin und am Sustainable Computing Lab der Wirtschaftsuniversität Wien und die Sektion Internetvölkerrecht am Max-Planck-Institut für ausländisches öffentliches Recht und Völkerrecht.
Er begeistert sich auch für große Fragen der Internetregulierung und ist sehr aktiv beim Internet Governance Forum, dem weltweit einzigen von der UNO initiierten Gesprächsforum für Internetpolitik. Auch in rot-weiß-rot: “Das Internet Governance Forum Austria, das nationale Vorbereitungstreffen, wiederzubeleben, ist mir ein besonderes Anliegen”, so Prof. Kettemann, der sich nach sieben Jahren in Deutschland auch darauf freut, die österreichische Internetforschungsgemeinschaft enger zu vernetzen. 2022 möchte er mit Institutskolleg*innen Clara Rauchegger und Malte Kramme den 1. Österreichischen Digitalrechtstag initiieren (die Domain digitalrechtstag.at hat er sich schon gesichert).
Der Grazer, der auch das Junge Forum: Technikwissenschaften leitet, hat sich zum Ziel gesetzt, mit Recht technologische Entwicklungen menschenzentriert und nachhaltig auszugestalten. Wer sagt, was wir online sagen dürfen? Wer sichert unsere Demokratien in der datenkapitalistischen Plattformökonomie? Wie lenken Maschinen Menschen? Wie können Algorithmen erklärt werden? Wie können Individuen wie Staaten ihre digitale Souveränität in zukunftsorientierten Verantwortungsgesellschaften sichern?
Diese Fragen wird Prof. Kettemann auch im Rahmen von Veranstaltungsformaten wie monatlichen Digitaldialogen, Zukunftsgesprächen und Theoriekolloquien in die Universität und die Bürger*innengesellschaft tragen. Der Forscher ist ein großer Fan des “Third Mission”-Auftrags der Universität, also der aktiven zielgruppengerechten Wissenschaftskommunikation. “Wir haben - gerade in Zeiten wie heute - eine besondere gesellschaftliche Verantwortung”, meint der Digitalexperte. Wer, wenn nicht wir Internet- und Innovationsrechtler*innen müssen beantworten, wer digitale Märkte, Dienste, Daten und künstliche Intelligenz reguliert und wie Innovation digitalisiert und Digitalisierung innovativ – und beide nachhaltig – ausgestaltet werden kann?”
Der neu berufene Professor verwendet gerne sprechende Domains für seine Projekte. Unter wiegehtsdeminternet.de hat er mit einem zehnköpfigen Team für die UNESCO die Lage des Internets in Deutschland analysiert. Unter WhyAI.eu sammelt er Beiträge und Videos, in denen Expert*innen Falschvorstellungen zur gesellschaftlichen Auswirkung künstlicher Intelligenz korrigieren. Aktuell analysiert er mit einem interdisziplinären Team auf wahlwatching.online und superwahljahr.eu Desinformation und Hassrede im deutschen Bundestagswahlkampf. Besonders gefreut hat den neuberufenen Professor daher, dass die Domains uibk.digital und future.tirol beide noch frei waren. Beide verweisen nun auf das Institut für Theorie und Zukunft des Rechts. “Frei war übrigens auch nordkettemann.tirol”, das habe ich mir als Einstiegsgeschenk dann selbst gegönnt, schmunzelt der begeisterte Wanderer.